Der galaktische Spieler




Blau schimmerte die Wand, wie sie schon so lange blau schimmerte, wie Meyer VII in diesem Raum des Pergamonmuseums arbeitete.
Das Ischtar-Tor war einer der Anziehungspunkte des Museums und der Touristenstrom hatte seit der Öffnung des sogenannten eisernen Vorhangs ungeahnte Ausmaße angenommen. Viele Touristen kamen, weil sie den Pergamonaltar in Bergama in der Türkei vermisst hatten, als sie die dortigen Ausgrabungsstätten besichtigten. Hier in Berlin konnten sie vieles sehen, was möglicherweise, wenn es nicht von Archäologen geborgen worden wäre, unwiederbringlich verloren gewesen wäre.
Gewesen wäre, er dachte schon in Konjunktiv-Konstruktionen, die dem Plusquamperfekt der Berliner nicht unähnlich waren, obwohl er gar kein Berliner war, nie ein Berliner gewesen war.
Wenn man die Buddhastatuen in Afghanistan auch früh genug geborgen hätte, wären sie sicher nicht von den radikalen Fundamentalisten gesprengt worden.
Meyer VII empfand wieder Genugtuung bei dem Gedanken, nun im Museum zu arbeiten, also selber etwas zum Erhalt kulturhistorischer Funde beizutragen und sei es nur, zu verhindern, dass unbefugte Besucher die ausgestellten Exponate berührten. Genugtuung in dieser Beziehung empfand er erst, seit dem er im Museum arbeitete. Früher war er in der Politik tätig gewesen und seine Partei hatte sich noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts öffentlich dazu bekannt, die radikal-islamischen Fundamentalisten in Afghanistan zu unterstützen, als sie eine mehr oder weniger demokratisch gewählte Regierung stürzen wollten. Seine Partei war alles andere als eine Revoluzerpartei, jedoch hatte die demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan Hilfe von der damaligen Sowjetunion erhalten, was automatisch dazu führte, dass seine Partei gegen die demokratisch gewählte Regierung sein musste und für die Rebellen.
Nach der Sprengung der Statuen hatte sich seine Partei einige Fragen gefallen lassen müssen.
Nun war Meyer VII für die Partei Vergangenheit, ebenso, wie die Partei für ihn Vergangenheit war.
Ein Mann seltsam gekleideter Mann trat zu nah an die blaue Kachelwand des Ischtar-Tors und Meyer VII eilte zur Stelle.
"Berührung verboten!"
Vielleicht hatte der Klang seiner Stimme etwas zu hart geklungen, aber damit hatten schon zur Zeit seiner kurzen politischen Karriere auch seine Gegner zu leben gehabt.
Der Mann drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn an.
"Was sagtest du?"
"Berührung verboten!"
Der Mann lächelte gütlich.
"Das ist gut! Pass 'mal schön hier auf das Tor auf, ich werde es wohl in einiger Zeit brauchen und lege Wert darauf, es hier unbeschadet vorzufinden! Es muss wieder zurück an den Ort, an dem es erbaut wurde!"
Der Mann sah gar nicht aus wie ein typischer Perser, obwohl - andererseits sah er aber auch nicht aus, wie ein typischer Mitteleuropäer...
Er hatte aber ein Deutsch gesprochen, um das ihn so mancher Verfechter Deutscher Leitkultur beneidet hätte.
"Das Tor bleibt hier!"
Meyer VII wusste gar nicht, warum er sich auf eine Diskussion mit diesem Menschen einließ, der mit Sicherheit ein Ausländer war.
"Ja, Meyer VII! Bis ich es hole!"
Woher wusste der Mann seinen Namen?
War er möglicherweise von der Museumsleitung autorisiert worden, das Tor zu berühren und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass er, Meyer VII, der verantwortliche Museumsaufseher in dieser Halle war?
"Ich werde wiederkommen und das Tor abholen! In Babylon werde ich mir einen Ort der Entspannung schaffen und dieser Ort wird wohl derjenige in diesem Spiralarm sein, der in den nächsten Jahrhunderten von den meisten Touristen besucht werden wird."
Der Mann redete verworren und sah dabei an Meyer VII vorbei.
"Waren sie schon 'mal in Persien?"
"Ich bin in der Nähe von Babylon geboren, es liegt aber in dem Land, das heute von den Menschen Irak genannt wird und nicht im Iran!"
"Ich wusste gar nicht, dass die Museumsleitung plant, das Tor wieder zurückzugeben!"
"Museumsleitung? Ich weiß nichts von einer Museumsleitung! Pass du auf das Tor auf, dass es niemand mitnimmt! Ich werde wahrscheinlich in etwa fünfhundert Jahren so weit sein, dass ich es abhole - ich muss noch viele Orte des Planeten aufsuchen..."
Der Mann hatte sich während er sprach umgedreht und ging nun zurück in Richtung Pergamonaltar.
Meyer VII rief in der Museumszentrale an, um auf den Verrückten aufmerksam zu machen.
Er wollte verhindern, dass dieser seltsame Mann mit seinem wirren Gerede möglicherweise die Touristen verärgerte.
Doch hatte niemand diesen Mann gesehen, ja auch auf der Videoüberwachung des Eingangsbereiches war er nie aufgetaucht.
"Vielleicht hattest du ja Hallo-Sensationen, Meyer VII! Oder dein Größenwahn ist wieder zum Ausbruch gekommen!"






Der Panoramaschirm hatte noch vor gut einer halben Stunde, oder dem, was man im Rest der Galaxis für eine halbe Stunde gehalten hätte, nicht mehr als einen kleinen ockergelben Punkt angezeigt.
Hier herrschte die selbe unwirkliche Schwärze, wie in allen anderen Randgebieten der Galaxis, zumindest dann, wenn man das Band dessen, was man auf der Erde die Milchstraße nannte, im Rücken hatte.
Da sich sein Raumschiff aus Richtung galaktischem Zentrum dem Planeten Karo VII näherte, war nur die Schwärze des intergalaktischen Raumes erkennbar gewesen.
Nun hatte sich aus dem ockergelben Punkt langsam die Kugel des Wüstenplaneten gebildet.
Noch eine Viertel Stunde, oder das, was man in der Galaxis...
Die Landung war reine Routinesache und trotzdem anders als tausende von Landungen zuvor.
Gilgamesch war sich der Besonderheit des Tages bewusst, ja er dachte wehmütig an die letzten viertausend Jahre und daran, dass ihn dieses Raumschiff tatsächlich durch Dick und Dünn begleitet hatte. Nun mochte es die letzte Landung gewesen sein, die er mit diesem herrlichen Schiff erleben durfte, denn er war mittlerweile durch schlechte Umstände so mittellos geworden, dass er keinen Start mehr wagen konnte.
Karo VII war für ihn Hoffnungs- und Schicksalplanet in gleicher Weise, wie schon vor Jahrtausenden, als er in ähnlicher Weise hier her gekommen war und dieses herrliche Raumschiff beim Spiel gewonnen hatte.
An diesem Tage würde ihm schon ein wesentlich kleinerer Gewinn reichen, ihm die Möglichkeit geben, weiter die Galaxis zu durchstreifen, wie er es tat, seit dem er seinen Heimatplaneten verlassen hatte, auf der Suche nach den Göttern und der Unsterblichkeit. Die Suche nach Ersteren hatte er aufgegeben und die Unsterblichkeit war nichts besonderes unter den raumfahrenden Völkern der Galaxis.
Wenn ihn niemand tötete, konnte er noch weitere Jahrtausende leben, ohne gesundheitliche Beeinträchtigung. Töten gab es in der zivilisierten Galaxis schon seit hunderttausenden von Jahren nicht mehr, es sei denn, man begab sich auf einen Primitivplaneten, der noch nicht offiziell in die galaktische Föderation aufgenommen worden war. Viele Pangalaktiker, die nach Jahrtausenden des Lebens überdrüssig waren, zog es auf solche Primitivplaneten, deren Betreten eigentlich nicht gestattet war, es sei denn, man war der Besitzer. Zum Planetenbesitzer hatte es Gilgamesch in den letzten viertausend Jahren nicht gebracht, er wusste aber auch nicht, ob das erstrebenswert war.
Erschütterungsfrei, wie man es nicht anders erwartet hatte, setzte das Raumschiff auf dem kleinen Raumhafen auf, in dessen Nähe sich das Zentrum der Spieler dieses Spiralarmes befand.
Genau diese Zentrum der Spieler war Gilgamesch' Ziel.
Ihn trieb die Hoffnung hierher, noch einmal in seinem Jahrtausende währenden Leben dieses eine Quentchen Glück zu haben, das man brauchte, um sich die Jahrtausende so angenehm wie möglich zu gestalten.
Gilgamesch trat langsam und würdig in die Halle im Zentrum der Spieler ein.
In jeder Sekunde, oder dem, was in der Galaxis als kleinste für Intelligenzen wahrnehmbare Zeiteinheit galt, war er sich der eigentlichen Aussichtslosigkeit seines Handelns bewusst.
Im Laufe der letzten Jahre hatte er ohne es richtig zu realisieren immer mehr von dem verloren, was sein Leben angenehm gemacht hatte, indem er Taten ausführte, die seine Vorväter niemals gutgeheißen hätten.
Nun wusste er nicht, dass genau zur selben Zeit ein anderer die Halle aus der anderen Richtung betrat, zum ersten Mal seit Jahrzehntausenden. Jemand der alles erreicht hatte, was es in einer Galaxis wie dieser zu erreichen gab. Jemand, der des ewigen Lebens bereits überdrüssig geworden war und der mit einem morbiden Selbstverständnis die Halle betrat, wie Gilgamesch es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen vermochte.
Das Gesetz des Universums war dafür verantwortlich zu machen, dass ausgerechnet diese Beiden an diesem Tag aufeinandertrafen, als hätte das Schicksal seit Jahrtausenden hinter irgendeiner Ecke gelauert, nur um in diesem Moment präsent zu sein, nur um diese eine Begegnung zu realisieren...
Aber kommen wir dazu später.
Zeit hatte in der bekannten Galaxis ihre Wichtigkeit verloren, Zeit war alles, was man zu haben hatte, Zeit in Überfluss. Und wenn man der Zeit überdrüssig wurde, suchte man einen Primitivplaneten auf.
So weit in der zivilisierten Galaxis bekannt war, hatte es noch niemanden gegeben, der länger als ein bis zwei Jahrtausende auf so einem Primitivplaneten überlebt hatte, was zum Ruf eines Himmelfahrtskommandos - im übertragenen Sinne - führte, denn es gab wohl noch eine Steigerung von Himmel, die allerdings an dieser Stelle nicht näher betrachtet werden wird.
In der Mitte der Halle schwebte eine Plattform, auf der ein Pendel des Chaos angebracht war.
Die Spieler machten voraussagen, in welche Richtung sich das Pendel nach dreiundzwanzig Ausschlägen bewegen würde.
Es waren etwa dreihundert Spieler versammelt, die Zahl wechselte regelmäßig und die automatische Anzeige für die Spielerzahl sprang eine Stelle weiter, als Gilgamesch von ihr als neuer Spieler registriert wurde.
Gilgamesch wartete nicht lange sondern setzte eine größere Summe auf eine äußerst unwahrscheinliche Kombination von Ausschlägen.
Ein weiterer Spieler, der fast zeitgleich mit Gilgamesch die Halle betreten hatte, war der einzige, der dagegen setzte.
Gilgamesch sah auf und erkannte einen Elohim.
Die Elohim hatten vor Jahrtausenden auf dem Planeten, von dem Gilgamesch stammte, Genexperimente vorgenommen, in der Hoffnung, ihre eigene Gattung zu verbessern.
Letztendlich hatte es den Elohim nichts eingebracht, denn sie hatten ihre Experimente nach einigen Jahrtausenden aufgegeben.
Die Tatsache, dass der Elohim Gilgamesch nicht als Ergebnis dieses Genexperimentes erkannte, konnte nur von Vorteil sein.
Er sah nicht einmal auf, als Gilgamesch setzte, sondern setzte einfach nur immer dagegen.
In Gilgameschs Brust begann das Jahrtausende alte Herz zu pochen, wie es sicher schon seit Jahrhunderten nicht mehr gepocht hatte.
Was immer er auch setzte, der Elohim setzte dagegen.
Gilgameschs geringe Summe, mit der er den Saal betreten hatte, steigerte sich im Laufe von wenigen Stunden auf das Hundertfache.
Der Spielleiter unterbrach die Spielsequenz und wollte von Gilgamesch und dem Elohim die Namen erfahren, weil dieses Spiel sich langsam aber sicher in Summengrößen gesteigert hatte, die man wohl nicht mehr ohne Voranmeldung spielen lassen wollte.
Gilgamesch nannte seinen Namen und der Elohim sah immer noch nicht auf.
Der Spielleichter fragte den Elohim.
"Jehova!"
Irgendeine Erinnerung spukte in Gilgameschs Unterbewusstsein herum. Wo hatte er den Namen schon einmal gehört?
Die Elohim hatten seltsame Namen getragen, obwohl Jehova eigentlich ganz geläufig klang.
Gilgamesch verdrängte den Gedanken an den Namen des Elohim wieder aus seinem Wachbewusstsein, in das er zu drängen versuchte.
Das Spiel war zu wichtig geworden.
Stunden, oder das was man in der Galaxis gemeinhin als Stunden bezeichnet hätte, vergingen wie im Fluge, die Summe, die Gilgamesch mittlerweile sein Eigen nennen konnte, war so gewaltig, dass er schon darüber nachzudenken begann, ob er dieses Spiel überhaupt noch weiterspielen sollte.
Irgend etwas in ihm gab ihm aber die Sicherheit, dieses Spiel nicht verlieren zu können.
Der Elohim setzte und hatte immer noch nicht von der Pendelkonstruktion aufgesehen.
Ein Raunen ging durch den Saal, Gilgamesch sah auf, verstand aber den Grund für diese Unruhe nicht.
Auf der automatischen Anzeige war zu erkennen, dass Jehova seinen Einsatz gemacht hatte.
Experimentalplanet III.
Was sollte das?
Hatte der Elohim schon so viel verloren, dass er einen ganzen Planeten setzen musste?
Was sollte Gilgamesch mit einem Planeten anfangen?
Egal.
Ein Planet konnte nie schaden, immerhin war er in den letzten Stunden zu einem der Vermögendsten Wesen in der Halle geworden, nachdem er wahrscheinlich mit dem nominell geringsten Vermögen den Saal betreten hatte.
Tatsächlich hatte dieser Elohim diesen obskuren Experimentalplaneten III gesetzt.
Der Spielleiter erteilte nach einer kurzen Wartezeit die die Freigabe für den Einsatz Experimentalplanet III, nachdem er festgestellt zu haben schien, dass Jehova wohl tatsächlich der Besitzer des Planeten war.
Das Pendel schwang und Gilgamesch brach der Schweiß aus.
Was, wenn er verlor?
Was, wenn er einen Planeten gewonnen hatte?
Gilgameschs Augen sogen sich an dem Elohim fest, der immer noch nicht aufgesehen hatte.
Seit Stunden hatte er völlig emotionslos den Verlauf des Spieles verfolgt.
Elohim waren ziemlich emotionslos.
Plötzlich ging eine Veränderung mit Jehova vor sich.
Als sei eine schwere Last von ihm genommen, blickte er erstmals auf und der Ausdruck äußerster Freude war in seiner Mimik zu erkennen.
Gilgameschs Herz setzte einige Schläge aus.
Adrenalin in seinem Blut verschleierte ihm den Blick.
Alles weg...
Alles verloren...
Das war das Ende!
Ein Tumult brach los.
Der Elohim sprang begeistert von einem Bein auf das andere, seine Freude war kaum noch zu überbieten.
"Gilgamesch!" der Spielleiter zog an seinem Arm.
"Du hast den Planeten gewonnen!"

"Ach du Scheiße!"





Rudolf Gantenbrink hatte es endlich geschafft, nach Jahren hatte er wieder Gelegenheit in der großen Pyramide in Gize seinen Forschungen nachzugehen.
Jahrelang war er von den zuständigen Behörden nicht mehr in die Pyramide gelassen worden und nun bereitete es ihm einerseits ein Gefühl der Genugtuung, das einem Gefühl freudiger Erwartung nach und nach wich.
Er war an diesem Morgen der erste, der die große Pyramide betrat und würde wohl bis zur Mittagszeit auch der einzige bleiben. Die Pyramide war für jedermann gesperrt worden. Rudolf hatte um einen Tag gebeten, um sich emotional wieder auf seine selbstgestellte Aufgabe einzustimmen.
Er hörte Schritte von der Galerie.
Ein Mann kam auf ihn zu.
"Hallo, did you sleep here?"
Irritiert blieb der Mann vor Rudolf stehen und blickte ihn lange und nachdenklich an.
"No, why should I sleep here? It's a nice place, when you are waked up!"
Ein so exzellentes Englisch hatte Rudolf ansonsten nur von Angehörigen der englischen Königsfamilie gehört.
Der Mann ging an Rudolf vorbei und strebte dem Ausgang entgegen.
Nach einigen Schritten blieb er stehen und wandte sich noch einmal Rudolf zu.
"'Is' doch ein Wahnsinn, diese Pyramide! Willst du wieder mit deinem kleinen Roboter arbeiten?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Mann dann weiter und verschwand hinter der nächsten Gangbiegung.
Als Rudolf ihm folgte, war er verschwunden.
Er erfuhr auch, dass niemand vor oder nach ihm die Pyramide betreten oder verlassen hatte. Die Ägypter ließen kaum jemanden ohne Aufsicht in dieses Bauwerk, in dieser Beziehung hatten sich die Zeiten extrem geändert.