Bambule II

Bambule: Bantusprache "Negertrommel" "Negertanz"

Protesthandlung aufgebrachter Häftlinge, z. B. Demolieren der Zelleneinrichtung.

Es war einer dieser seltenen sonnigen Tage im Juni 1987, an dem Malvine nach Hause kam, um mir eine relativ unerwartete Eröffnung zu machen, die die weiteren zehn Jahre meines Lebens beeinflussen sollte.

Ich war gerade dabei an einem der neu eingebauten Fenster in unserem Pionierraum herumzujustieren...

Unser Pionierraum war das Zimmer, von dem aus wir den Rest des Hauses erschlossen.

"Du, der Hermann hat gefragt, ob ich nicht einen guten erfahrenen Krankenpfleger kenne! Die brauchen jemanden mit Berufserfahrung!"

Diese beiden Sätze haben uns ganze drei lang Tage beschäftigt, bis wir zu einem einhelligen Ergebnis kamen. Malvine gab, bei den Verantwortlichen des Heimes, in dem sie seit acht Jahren arbeitete, bekannt, einen solchen Krankenpfleger zu kennen und machte sofort einen ziemlich kurzfristigen Termin aus, der mich zu einem Vorstellungsgespräch in das Haus führen sollte, von dem ich jahrelang fast täglich Dinge gehört hatte, die ich kaum zu glauben vermochte, wären sie mir nicht von Malvine erzählt worden. Ihre Berichte hatten mich häufig erstaunt, erheitert, verwundert aber auch verärgert, konnte ich doch nicht begreifen, mit wie viel kleinkarierter Ignoranz man es in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts noch zu tun hatte, waren doch die Jahre um 1968 gerade erst vergangen, hatte doch der Geist der Achtundsechziger bis in unsere Zeit hineingewirkt.

Einerseits wollte ich nicht unbedingt in einem Heim arbeiten, andererseits wäre uns das zusätzliche Geld nicht ungelegen gekommen, so dass es eigentlich gar nicht schlecht gewesen wäre, zu einem gemeinsamen Arbeitsplatz in der Nähe zu fahren. Man konnte immer noch die Probezeit abwarten, denn eines hatte ich mir sofort vorgenommen; ich würde mich für keinen Preis der Welt verstellen, wenn man mich nicht so wollte wie ich war, konnte es nicht an mir gelegen haben, denn eines stand für mich fest, ich war ein erfahrener Krankenpfleger mit rund fünfzehn Jahren Berufserfahrung auf allen Gebieten mit Ausnahme der Dialyse.

Fünfzehn Jahre, in denen ich alle Erfahrungen gemacht hatte, die man in einem Krankenpflegerleben machen kann, konnte ich anbieten. Dafür verlangte ich einen angemessenen Preis und mit Malvine in einer Schicht arbeiten zu können.

Da das Vorstellungsgespräch sehr kurzfristig terminiert wurde, gab es nicht viel Zeit für Malvine, mir noch einige Vorabinformationen zu bestimmten Personen zu geben, auf die ich in dem Vorstellungsgespräch treffen konnte, ging ich an einem Donnerstag Anfang Juni ziemlich unvorbereitet in dieses Haus des Behindertenwerkes St. Wolfgang. Sicherlich werden sich einige Leser erinnern, das das Behindertenwerk noch vor einigen Jahren für berechtigterweise negative Schlagzeilen gesorgt hatte.

Ich betrat das Heim, in dem Malvine nun schon seit acht Jahren arbeitete zum ersten Mal, wenn man einmal davon absah, dass ich schon einmal bis in den Flur hinter dem Eingang gekommen war, um mit Malvine die Schlüssel unserer Autos tauschen zu können. Herr Rost hatte zu diesem Zweck Malvine auf ihrer Station angerufen und sie aufgefordert schnell einmal herunterzukommen um etwas entgegenzunehmen. In diesem Zusammenhang scheint es mir noch wichtig, zu bemerken, dass Malvine fast ständig alleine in ihrem Wohnbereich arbeitete, den man damals noch Station nannte, und dass es daher für mich verständlich erschien, wenn Herr Rost der Meinung war, Malvine müsse sich beeilen.

Ich betrat also dieses Heim erstmalig, obwohl es schon einmal eine Möglichkeit zum Betreten des Hauses gegeben hatte, als man im September 1986 ein Sommer- bzw. Gartenfest veranstaltet hatte, was offiziell mit einem Tag der offenen Tür verbunden gewesen war.

Dieses nun durchgeführte Vorstellungsgespräch wies einige obskure Besonderheiten auf, die sich schon im Vorfeld abzeichneten. So wurde ich beispielsweise schon auf dem Parkplatz zufällig von Hermann Winter empfangen, der mich in den Raum führte, in dem das Vorstellungsgespräch stattfinden sollte. Bei diesem Raum handelte es sich um den sogenannten Besucherraum, in dem Angehörige und Betreuer der Bewohner, die damals noch Patienten genannt wurden, einige Zeit mit ihren zu Besuchenden verbringen konnten.

Auffällig erschien mir, dass wohl auch Angehörige der Bewohner nicht ins Haus gelassen wurden, genau so, wie ich damals bei den Schlüsseltauschaktionen; als hätte man etwas zu verbergen.

Während Hermann Winter mir die Tür aufhielt, was er übrigens nach diesem Tag nie wieder getan hat, erwähnte er relativ konziliant, dass es sich bei dieser Aktion, gemeint war das Vorstellungsgespräch, ja nur um eine Proformaangelegenheit handeln würde, da für ihn und Frau Roemer bereits feststünde, mich einzustellen, man wäre der Meinung, Malvine würde mich nicht empfehlen können, wenn ich nicht geeignet sei.

An diese Aussage konnte er sich übrigens nie wieder erinnern.

In diesem erwähnten Besucherraum saß ich dann der damaligen Heimleitung, bestehend aus einem gleichberechtigten Dreierteam und einem Vertreter der Mitarbeitervertretung genannt MAV gegenüber.

Das Behindertenwerk St. Wolfgang e. V. hatte sich aus Gründen, die ich sehr gut nachvollziehen konnte für das relativ rechtebeschneidende Mitarbeitervertretungsrecht der katholischen Kirche entschieden, um zu vermeiden, dass in der damaligen Umbruchsituation sogenannte alte Seilschaften noch über zu viele Einflussmöglichkeiten verfügten. Wäre auf das Personalvertretungsrecht zurückgegriffen worden, hätte man zum damaligen Zeitpunkt das Behindertenwerk nicht so schnell so weit entwickeln können, so zumindest wurde mir dieser Sachverhalt später dargestellt.

Der Mann, der die Mitarbeiter vertrat hieß Josef Risse und war Krankenpflegehelfer, der in einem der Wohnbereiche im Schichtdienst arbeitete; die Wohnbereiche wurden damals noch Stationen genannt.

Zu den drei Personen der gleichberechtigten Heimleitung gehörte Herr Siegfried Rost, der das Heim zwölf Jahre lang alleine geleitet hatte, Barbara Roemer und Hermann Winter, die am 01.10.1983 in diesem Hause des Behindertenwerkes ihre Arbeit aufgenommen hatten.

Man erzählte mir nicht viel über das Haus sondern setzte wohl voraus, aufgrund meiner Bekanntschaft mit Malvine würde ich alles Erforderliche wissen. Man befragte mich aber akribisch nach allem, was ich zuvor getan hatte, wobei ich ausführlich über meine Erfahrungsbereiche in den unterschiedlichsten Krankenhäusern berichtete. Warum ich die letzten Jahre nicht gearbeitet hatte war das einzige was Hermann Winter zu interessieren schien.

Erst einige Monate später sollte ich erfahren warum.

Gesprächsführend war Barbara Roemer, Diplompsychologin und wohl auch die Person, die in diesem Heim zum damaligen Zeitpunkt der Motor jeder Veränderung zum Besseren war.

Ich berichtete von meiner schriftstellerischen Tätigkeit und den zahlreichen Ablehnungen durch Verlage und dass ich mich dann daran erinnert hatte, dass das einzige, mit dem ich mit Sicherheit Geld verdienen konnte, mein erlernter Beruf war. Diese meine Äußerungen stießen wie gewohnt auf große Skepsis, trotzdem stand ich prinzipiell auf dem Standpunkt, immer sofoert die Karten auf den Tisch zu legen. Daher habe ich nie einen Hehl aus meinen eigentlichen Ambitionen gemacht.

Ich berichtete weiter, dass ich allerdings nicht vor dem 01.09.1987 meinen Dienst aufnehmen könne, weil ich beabsichtige, den Sommer zu nutzen, um an unserem Haus noch einige Umbauten vorzunehmen.

Man schien auch diesen Umstand zähneknirschend akzeptieren zu können. Dieses Vorstellungsgespräch, das zuvor ja bereits durch Hermann Winter als Farce geoutet worden war, gipfelte dann darin, dass ich nach einiger Zeit Gehaltsvorstellungen äußerte, die die Beteiligten wohl derart verblüfften, dass man, in diesem Falle Barbara Roemer, den Raum verlassen musste, um zu telefonieren. Dabei waren meine Forderungen derart bescheiden, dass ich mich nicht traue, sie hier zu äußern.

Nach einer Abwesenheit von circa zehn Minuten kehrte Barbara Roemer zurück, um mir zu offerieren, man könne meine Forderung erfüllen.

Sicher ist es wichtig in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass Malvine und ich nicht darauf angewiesen waren, dass ich den Job erhielt.

Ob sie mir denn das Haus zeigen müsse, ich würde es ja wohl schon seit Jahren kennen!?

Barbara Roemer war verblüfft, als sie erfuhr, dass ich noch nie weiter, als bis zur Pforte vorgedrungen war.

Sie zeigte mir das Haus. Entschuldigend erwähnte sie den baulichen Zustand, den ich ehrlich als nicht erschütternd kommentieren konnte, weil das alte Soester Stadtkrankenhaus Ende der Siebziger Jahre in einem ähnlichen Zustand gewesen war, bevor ich am 23.10.1977 am Umzug in das später als Krankenhaus am Rande der Stadt bekannt gewordene Gebäude teilgenommen hatte.

Schon bei diesem Rundgang fiel mir auf, dass es im sogenannten Haupthaus zwei Wohnbereiche gab, deren Vordertüren zwar abgeschlossen waren, deren Türen zum hinteren Treppenhaus allerdings von jedem Bewohner geöffnet werden konnten. Auf diesen Umstand angesprochen wurde mir unterbreitet, die Bewohner könnten trotzdem nicht selbständig das Haus verlassen, weil der Ausgang des hinteren Treppenhauses verschlossen sei und jeder, der hinausgehen wolle, irgendwann einmal von innen vor einer verschlossenen Wohnbereichstür stehen würde.

In diesem Hause traf ich Bewohner mit allen erdenklichen psychischen Beeinträchtigungen an, die man normalerweise in den umliegenden Psychiatrischen Kliniken finden konnte.

Lambarene

Der erste September 1987 war ein Dienstag und man hatte mich für 9.00 h bestellt, was ich für eine zivile Anfangszeit hielt.

Erstmals betrat ich das Nachbarhaus, bei dem es sich um das ehemalige Schwesternhaus des ehemaligen Krankenhauses handelte. Das Büro Barbara Roemers war geräumig und ich war nicht wenig erstaunt, als ich erfuhr, dass man in einem Zimmer dieser Größe früher bis zu vier Bewohner untergebracht hatte.

Nach einigen allgemeinen Worten, deren Inhalt viel mit unqualifiziertem Personal zu tun hatte, stellte sich heraus, dass Herr Rost Urlaub hatte und sein Stellvertreter Herr Albert Hintze nun dafür zuständig sei, mich in den Wohnbereich zu bringen, in dem ich ab diesem Tage arbeiten würde. Barbara Roemer sprach von Gerontopsychiatrie.

Albert Hintze, der stellvertretende Heimleiter, also mit anderen Worten der Heimleiter, wenn alle Personen des Dreierteams ausfielen, brachte mich in den ersten Stock des Hauptgebäudes, zu einer Station, deren Eingangstür verschlossen war, wie ich es aus psychiatrischen Krankenhäusern kannte.

Dieser Bereich wurde Station B genannt und es lebten zweiundzwanzig meist ältere Personen zusammen, von denen einige dermaßen desorientiert waren, dass die Vordertür verschlossen war. Herr Hintze ließ mich auf Station B zurück, die erst ein Jahr später nach den Theorien von Jack Vance, aus die Kriegssprachen von Pao, in Wohnbereich umbenannt werden sollte.

Ein Mann, Mitte fünfzig in grauer Stoffhose und weißer Jacke, wie ich sie in der Psychiatrie vor Jahren als Wärterjacke kennengelernt hatte, empfing mich im Dienstzimmer; nachdem ich hauptsächlich mit Barbara Roemer und deren Menschen- und Weltbild nach unseren zwei Begegnungen konfrontiert worden war, erkannte ich nun schlagartig, was sie immer mit unqualifiziertem Personal und menschlichen Altlasten gemeint hatte. Dieser Mensch, der gut als Wärter im Kuckucksnest-Film von 1973 mit Jack Nicholson vorstellbar gewesen wäre, wurde mir von Albert Hintze als Clemenz Gerz vorgestellt. Dieser Clemenz Gerz sprach mich, nachdem Albert Hintze die Station verlassen hatte an.

In diesem Zusammenhang lege ich Wert darauf, wörtlich zu zitieren.

"Ich habe ja schon viel über Sie gehört, Sie sollen ja sogar schon 'mal im OP gearbeitet haben, aber eines will ich Ihnen sagen! Machen Sie das erst 'mal so lange wie ich, dann können Sie mitreden, früher nicht!"

Sein DAS hatte er durch eine weitschweifige allumfassende Geste deutlich unterstrichen, wohl in der Hoffnung oder Annahme, mich beeindrucken zu können.

Bei dieser Ansprache änderte sich seine sprachliche Nuancierung dergestalt, dass er am Ende des letzten Satzes eine beachtliche Aggressivität in seine Worte legte. Wovor hatte er Angst?

Meine Reaktion zeugte davon, wie unerwartet dieser Angriff für mich kam, denn im Grunde genommen hatte er mich überrumpelt und ich musste in den folgenden Sekunden, die für meinen Werdegang in diesem Heim entscheidend sein konnten, improvisieren.

"Wie lange machen Sie das denn schon, Herr Gerz?"

"Seit Mai 1973!"

Er lehnte sich doch tatsächlich mit stolz geschwellter Brust zurück.

"So, seit 1973 machen Sie das? Ich habe am 03.08.1972 meinen Dienst im Krankenhaus aufgenommen, also ziemlich genau zehn Monate vor Ihnen!"

Eine weitere Eskalation wurde dadurch vermieden, dass eine jüngere Frau Namens Anita Herberts hereinkam und mir unbedingt die Station zeigen wollte.

Diese Anita Herberts stellte mir die Bewohner vor, die noch Patienten genannt wurden und zeigte mir die Räumlichkeiten.

Im Laufe des Rundganges sagte sie mir, sie sei froh, dass ich über zehn Monate mehr Berufserfahrung als Clemenz Gerz verfüge und außerdem eine qualifizierte Ausbildung habe, was mir bewies, dass sie sich bei dieser kurzfristigen Eskalation im Flur, zumindest in zufälliger Hörweite aufgehalten haben musste.

Sie zeigte mir alle möglichen Räumlichkeiten auch außerhalb der Station, so wie den Keller und das sogenannte Hauptbüro, das Büro, in dem Herr Rost normalerweise arbeitete, doch trafen wir nun Herrn Albert Hintze hier an, der gerade damit beschäftigt war, Herrn Rost zu vertreten.

Er müsse meine Kleidergröße wissen, um mir Dienstkleidung mit dem Emblem des Behindertenwerkes zu bestellen; ich war am ersten Tag mit normaler Straßenkleidung erschienen, wohl auch, weil mir die alten Sachen aus den Krankenhäusern nicht mehr passten, denn ich hatte fast zehn Kilogramm zugenommen.

In dieser Abteilung war die Arbeit primär gerontopsychiatrisch geprägt, ein Begriff, der sich für mich erst später herauskristallisierte. Nur war das, was ich in den ersten Wochen antraf, alles andere als Gerontopsychiatrie, wobei man sehr genau unterscheiden muss, zwischen Infrastruktur, Menschenbild und Motivation.

Es gab nur einen Begriff, den man für die Arbeit in diesem Wohnbereich verwenden konnte, um es zunächst anschaulich zu machen;

Lambarene!

Doch der Name Lambarene bezog sich nur auf die äußeren Umstände, die stattfindende Improvisation und keinesfalls auf die Motivation und das zu erwartende Menschenbild der Beteiligten; Lambarene war nur der passende Begriff für die angetroffene Infrastruktur. Jede andere Auslegung dieser Namengebung würde Albert Schweitzer und seine Arbeit mit Füßen treten.

Bei der Tätigkeit in diesem Bereich handelte es sich immerhin um die Betreuung und Pflege von Personen, die über einen entsprechenden Bedarf verfügten.

Pflege, Krankenpflege war aber genau das, was niemand in diesem Bereich zu kennen, zu verstehen, zu beherrschen schien, ja man schien sich noch nicht einmal über die grundlegensten Zusammenhänge menschlichen Verhaltens Gedanken gemacht zu haben und den alten Begriff der Menschenwürde gar nicht zu kennen, oder zu selektieren, bestimmte Menschen auszugrenzen, mit zweierlei Maß zu messen.

Man betrat morgens die Bewohnerzimmer, riss die Fenster auf, um zu lüften und begann dann mit dem, was ich grundsätzlich als Grundpflege bezeichnen musste, obwohl dieser Begriff in diesem Wohnbereich unbekannt zu sein schien. Man benutzte bei inkontinenten Bewohnern sogenannte Einmalunterlagen der Größe 90 x 90 in doppelter Ausführung, die man den mobilen Bewohnern, wenn sie das Bett verließen in die Unterhose stopfte, ohne zu wissen, dass es dafür spezielle Inkontinenzprodukte gab. Auf all diese Missstände, von denen hier nur zwei genannt wurden angesprochen, hatte ich den Eindruck, meine Worte würden zumindest bei einigen meiner neuen Kollegen auf fruchtbaren Boden stoßen.

Zu bestimmten Umständen gab es dann immer zwei mögliche Standardformulierungen: Das will der Markus so, oder das hat Wermelskirchen so angeordnet. Oder auf die Frage hin, ob man nicht Einmalwindeln für Erwachsene Benutzen könne, so etwas gibt es hier nicht.

Schnell war mir klar, dass es unbedingt erforderlich sein würde, mit diesem Markus zu reden, obwohl ich bereits zuvor mittels meiner Autorität als Fachkompetenter einige Dinge zu ändern gezwungen war. Trotz des hinderlichen Umstandes, mit keinerlei Mandat als Dienstvorgesetzter ausgestattet zu sein, musste ich aufgrund meiner Berufsausbildung und der Erfahrung, dass es an jeglicher Fachkompetenz fehlte, einige Angelegenheiten sofort ändern, denn ich konnte es nicht ertragen, Dinge geschehen zu lassen, die nach meiner Meinung grundlegend falsch waren und jeder Form von pflegerischem Understatement zuwiderliefen.

Dieser Markus hatte zu diesem Zeitpunkt nachtdienstfrei und sollte in der darauffolgenden Woche wieder Nachtdienst leisten, was dazu führen würde, dass ich ihn zumindest abends bei den Übergaben sah. Ich würde mit ihm reden müssen, denn er wurde mir als Krankenpfleger angekündigt, der in diesem Wohnbereich die Verantwortung habe, zumindest was die andere Schicht anging.

Schnell kristallisierte sich heraus, dass, aufgrund des Mangels beruflicher Kompetenz bei den anderen Mitarbeitern, ich in der Schicht die Verantwortung übernehmen musste, in der ich tätig war, weil es niemanden gab, der zum Treffen kompetenter Entscheidungen in der Lage gewesen wäre.

In der Schicht, in der ich arbeitete waren der erwähnte Clemenz Gerz, Anita Herberts, Ingrid Neumann, Marina Overmeyer und Marion Weinrich beschäftigt, das machte also mit mir zusammen sechs Pflegekräfte, oder Quasipflegekräfte.

Nach der ersten Woche konnte ich Malvine berichten, noch nie so wenig gearbeitet zu haben, wenn man 'mal von der Geriatrie in Eickelborn absah.

Meine Kollegen behaupteten immer, in ihrem Wohnbereich wäre wesentlich mehr zu tun, als in allen anderen; ich ließ sie reden und äußerte mich nicht dazu, in meinem Leben erst in einem Praxiseinsatz weniger gearbeitet zu haben.

Da ich Krankenpfleger war, fühlte ich mich ziemlich unsicher bezüglich der medizinischen Erkrankungen der Bewohner. Da es dabei auch einige Besonderheiten gab, erzählte ich Barbara Roemer, dass man entweder jederzeit Zugriff auf die vorhandenen Akten haben müsse, oder das eine Dokumentation stattfinden müsse, aus der medizinische Besonderheiten hervorgingen. Dies sei besonders wichtig, für den Fall, dass man den ärztlichen Notdienst benötige und der Hausarzt nicht greifbar sei.

Heute weiß ich, dass es für mich mehrere Beweggründe gegeben hat, dieses Manko zu benennen. Erstens brauchte ich als Krankenpfleger, der zuletzt auf einer interdisziplinären Intensivstation gearbeitet hatte Strukturen die ich kannte, mit denen ich etwas anfangen konnte. Zu dieser Zeit war ich jemand, der mit vital gefährdenden Situationen besser zurecht gekommen wäre, als mit einer psychischen Dekompensation. Zweitens war ich dermaßen entsetzt über die dort herrschenden Zustände, bezüglich des Verhaltens von Menschen gegenüber Menschen, dass ich etwas ändern musste und ansonsten meine Glaubwürdigkeit vor mir selber verloren hätte.

Außerdem hatte Barbara Roemer mich gefragt, wie ich zurechtkomme und ich hatte nicht das geringste Interesse ihr etwas vorzuenthalten, also benutzte ich auch das Wort Lambarene bezüglich der Zustände, die ich vorgefunden hatte und fragte nach den Ursachen für die bekannten Versorgungsengpässe. Sie sagte zu, Herrn Rost zu fragen, wenn er aus seinem Urlaub zurück sei.

Da Anita Herberts dieses Gespräch mitbekommen hatte, zeigte sie mir einige Stunden später eine Bestellliste, wie sie im Hause vorhanden war. Die Überschrift besagte, es würde sich um Pflegemittel handeln.

"Von uns weiß keiner, was das alles ist, also konnten wir auch nichts bestellen!"

Ich konnte mir eine Zwischenfrage nicht verkneifen.

"Und euer Markus?"

"Der hat gesagt, wir haben alles was nötig ist."

Als Barbara Roemer am nächsten Tag wieder auf die Station kam, zeigte ich ihr die Bestellliste und erklärte ihr, alle notwendigen Artikel seien darauf aufgeführt und dass ich vorhätte sie zu bestellen.

Es gab nicht den geringsten Widerstand.

Ich gab den Bestellzettel zuständigkeitshalber bei Herrn Hintze ab, als er mir die bestellten Dienstkleidungsstücke vorbei brachte.

Während ich die Dienstkleidung anprobierte, erinnerte ich mich an den Song von Reinhard Mei mein Achtel Lorbeerblatt und hatte schon keine Lust mehr, so verunziert mit dem Emblem dieser Firma herumzulaufen, die mir zu diesem Zeitpunkt zumindest als suspekt erschien.

An fast allem, was man mit den Bewohnern tat, hatte ich etwas auszusetzen und erhielt immer als Kommentar, der Markus will das so oder das hat Wermelskirchen so angeordnet, oder das war immer schon so.

Ich nutzte die nächste Gelegenheit Barbara Roemer auf diese Problematik anzusprechen, wobei ich es selbstverständlich vermied, Markus zu erwähnen, den ich ja noch nicht kannte.

"Ich weiß, dass der Hauptsitz des Behindertenwerkes in Wermelskirchen ist, aber wann endlich habe ich die Gelegenheit, mich fachlich mit der Person auseinanderzusetzen, die die pflegerischen Entscheidungen in Wermelskirchen für dieses Haus trifft, denn ich höre immer nur, Wermelskirchen habe irgend etwas, oder dieses und jenes angeordnet und ich würde permanent versuchen gegen dies Anordnungen zu verstoßen! Ich kann allerdings nichts tun, was meinem Gewissen und meinem Ausbildungsstand widerspricht."

"Wir haben nichts mit Wermelskirchen zu tun, zumindest nicht, was die Betreuung und Pflege der Bewohner angeht! Ihr pflegerischer Fachvorgesetzter ist hier im Hause nur Herr Rost!"

"Ich bitte Sie! So weit ich weiß, ist Herr Rost Krankenpflegehelfer! Wenn er etwas anordnet, was nach meiner Meinung so nicht in Ordnung ist, werde ich es natürlich auch nicht tun können, denn ich muss in solchen Fällen einfach meine fachliche Verantwortung in den Vordergrund stellen. Wer würde einen Krankenpflegehelfer zur Verantwortung ziehen, wenn ein Krankenpfleger greifbar wäre?"

Es gab also kein Wermelskirchen im Sinne meiner Mitarbeiter, also musste ich in den Fällen, in denen man mir Wermelskirchen vorhielt mit mehr Nachdruck auf meinem Standpunkt bestehen.

Donnerstags gab es in diesem Wohnbereich Teamgespräche, wo die Mitarbeiter zusammenkamen und alle Personen, die von außerhalb mit den Bewohnern zu tun hatten. In Diesem Falle handelte es sich um eine Beschäftigungstherapeutin, eine Bewegungstherapeutin und eine Mitarbeiterin in der Beschäftigungstherapie.

Ich musste wohl der erste Krankenpfleger in dieser Einrichtung sein, der Erfahrung im Umgang mit diesen Berufsgruppen hatte.

Barbara Roemer forderte mich in dem ersten Teamgespräch auf, mich vorzustellen, denn ich würde ja mit den betreffenden Kolleginnen auch zusammenarbeiten. Da ich von den Pflegekräften im Wohnbereich wusste, dass sie normalerweise überhaupt nicht mit den externen Kräften zusammenarbeiteten, und dass die drei Damen bisher nur als Souffleusen bei der Heimleitung denunziatorisch in Erscheinung getreten waren, ging ich sicherheitshalber sofort in die Offensive und fragte nach, ob sie auch nach Bobarth arbeiten würden. Es schadet nie, wenn man sofort klarstellt, dass einem das Fachgebiet von Kollegen nicht unbekannt ist.

Nach meiner Meinung waren die Bobarthtechniken bei dem sehr alten pflegebedürftigen Klientel unverzichtbar, was ich auch in einem Nebensatz zum Ausdruck brachte.

Ich hatte ins Schwarze getroffen, als ich feststellte, dass die drei Grazien, denn als solche wurden sie gemeinhin im Hause bezeichnet, wesentlich weniger Ahnung von den angesprochenen Themen hatten, als ich.

Erwähnen sollte man, dass die Beschäftigungstherapeutin aus Belgien stammte und angeblich sehr gut auf ihrem Gebiet sein sollte. Nach meiner Meinung erwies sie sich sofort als Windei, hatte sie doch immer nur einen Spruch drauf: Der Bewohner braucht mehr Struktur! Diesen Standardsatz griffen natürlich die anderen auf, als sie merkten, wie gut er bei Barbara Roemer ankam. Wenn man bedachte, dass sie gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und einundzwanzig Jahre alt war...

Die Bewegungtherapeutin war eine ausgesprochen gutaussehende Dortmunderin, die ich schwer einzuordnen vermochte.

Die Mitarbeiterin in der Beschäftigungstherapie war absolut farblos und bestätigte immer nur mit Nachdruck das, was gerade jemand gesagt haben mochte, sofern sie dem Redner zutraute, etwas zu sagen zu haben.

Am Freitag nach dem Teamgespräch ging ich durch den Wohnbereich A im Erdgeschoss und wurde von Josef Risse begrüßt, dem Krankenpflegehelfer, der als Vertreter der Mitarbeitervertretung bei meinem Vorstellungsgespräch zugegen gewesen war.

"Gut, dass Sie hier vorbeikommen, Sie sind doch Krankenpfleger! Sie könnten uns einen großen Gefallen tun..."

Ich folgte ihm bereitwillig ins Dienstzimmer.

Krankenpflegepersonal war wohl zum Dienen geboren oder dazu anderen Leuten Gefallen zu tun, warum nicht!?

Er zeigte mir die Dokumentation des Hintzsystems, wie sie im ganzen Hause benutzt wurde erzählte mir einige Umstände, die mich derart verblüfften, dass ich auch hier Wert auf wörtliche Zitate lege.

"Ich habe hier von Dr. Wingenfeld Laborwerte erhalten und kann sie wegen der Doktorschrift nicht richtig lesen! Wenn heute zur Übergabe der Hannes kommt, will ich nicht wieder angeschnauzt und bloßgestellt werden! Können Sie mir vielleicht diese Laborwerte leserlich auf einen Zettel schreiben, dass ich sie für die Dokumentation mit meiner Schrift nachtragen kann!?"

Tatsächlich handelte es sich um einfachste Laborwerte, wie Elektrolyte, Transamynasen und Kreatinin. Ich tat ihm den Gefallen und erfuhr, dass man in diesem Wohnbereich einen Krankenpfleger hatte, der mit dem Personal umging, wie der liebe Gott im alten Testament mit den Menschen, nur ohne die dem lieben Gott unterstellte Liebe.

Josef Risse und auch einige seiner Kollegen waren überrascht und erfreut, in mir einen Kollegen anzutreffen, der nicht nur kompetent, sondern auch kooperativ war...

"Ich heiße Josef!" war sein Kommentar.

Am einem anderen Tag bei der Übergabe, als ich aus irgendwelchen Gründen wieder durch diesen Wohnbereich A kam, wurde ich von einem Mann Mitte zwanzig angehalten, der sich mir als dieser erwähnte Hannes zu erkennen gab.

"Ich bin der Hannes! Und du musst dieser Krankenpfleger aus Soest sein!"

Du musst dieser Krankenpfleger aus Soest sein!

"Eines muss ich aber gleich klarstellen!

Ich habe meine Ausbildung in der Psychiatrie gemacht!

Wenn hier einer etwas davon versteht, dann ich und kein anderer!

So weit ich weiß, kommst du ja nur aus einem somatischen Krankenhaus!"

Ich ließ mich schon wieder provozieren.

"Ich muss dich da wohl korrigieren, ich komme aus einem richtigen Krankenhaus!"

Mich wunderte schon, wie viel Aufmerksamkeit mir gewidmet wurde und von wem.

Ich beschäftigte mich in diesem September 1987 eigentlich nur damit, mich über ungerechtfertigte Angriffe zu wundern und den Kollegen des Wohnbereiches die Fundamente der Grundpflege näher zu bringen.

Fast täglich sah ich Barbara Roemer, die mich nach meinem Befinden befragte und wie ich die Arbeit so einschätzen würde. Ihr entging natürlich nicht, dass ich einiges an den Arbeitsabläufen und der Bewohnerbetreuung änderte.

An zwei Tagen in der Woche kam Barbara Roemer mit einer großen dunkelhaarigen Frau in den Wohnbereich und zog sich mit dieser Frau und einer Person des Pflegepersonals in das Dienstzimmer zurück.

"Das ist die Frau Doktor!"

"Ach, sag' 'mal, Anita, hat diese Frau auch einen Namen?"

Es handelte sich um Frau Dr. Heidemarie Baumann, Assistenzärztin aus Dortmund Applerbeck. Da dieses Haus des Behindertenwerkes St. Wolfgang von dem Landeskrankenhaus Applerbeck im Rahmen einer sogenannten Patenschaft betreut wurde, kam diese Psychiaterin zweimal in der Woche, um die Bewohner im Behindertenwerk St. Wolfgang psychiatrisch zu betreuen.

In der zweiten Woche begleitete ich die Damen bei ihrer Visite.

Diese Heidemarie Baumann hatte eine eigentümliche Sicht einiger Dinge und Zusammenhänge menschlicher Verhaltensweisen, aber dazu kommen wir später.

Jedenfalls legte sie sehr großen Wert darauf, meine Sicht der Dinge in Erfahrung zu bringen, was ich allerdings erst Wochen später verstehen und annähernd nachvollziehen konnte. Sie fragte mich nach Verhaltensweisen der Bewohner und ich antwortete ihr zumeist bagatellisierend, denn ich hatte festgestellt, dass sich die Bewohner an wesentlich weniger Dingen zu stören schienen, als das Personal.

Kommen wir nun zu der Begegnung, die ich gut vierzehn Tage erwartet hatte.

Markus der Krankenpfleger nahm am Abend den Dienst auf und ich hatte Gelegenheit mit ihm zu reden. Bei diesem Markus handelte es sich um einen leptosomen Langstreckenläufer Ende Zwanzig, der seine Examen als einer der Letzten bei der Bundeswehr bekommen hatte. Bis Mitte der achtziger Jahre gab es die Möglichkeit bei der Bundeswehr vier Sanitätslehrgänge zu absolvieren und danach das Krankenpflegediplom zu bekommen, was ohne Probleme von jedem anerkannt wurde, es sei denn, man versuchte in einem Krankenhaus zu arbeiten. Ich kannte nur sehr wenige Krankenpfleger, die ihr Diplom bei der Bundeswehr bekommen hatten, die dann später in einem Krankenhaus arbeiten konnten, und ich wusste genau, was man machen musste, um letztlich in einem Krankenhaus anerkannt werden zu können. Krankenpfleger die von der Bundeswehr kamen hatten selten ausreichend praktische und theoretische Kenntnisse, um in einem Krankenhaus bestehen zu können. Schon beim Betten eines bettlägerigen Patienten versagten sie in der Regel, weil sie so etwas in ihrer Ausbildung nicht gelernt hatten. Überhaupt reichte ihre Bundeswehr Ausbildung nicht sehr weit, was später auch dazu führte, dass Sanitäter bei der Bundeswehr im späteren Leben maximal noch als Krankenpflegehelfer weiterarbeiten konnten, was ihren tatsächlichen Fähigkeiten tatsächlich besser gerecht wurde. Markus hatte allerdings zwei Recourcen, die man als Kapital bezeichnen konnte, wenn er auch ein gewaltiges Manko aufwies. Tatsächlich tat er mir vom ersten Moment an leid.



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