Vor Jahren hätte ich nie darüber nachgedacht, ob ich einmal in meinem Leben nach Polen fahren würde.
Polen war einfach eines dieser Länder hinter dem eisernen Vorhang, zu dem nunmal auch ein ehemaliger Teil Deutschlands gehörte, oder genauer gesagt, deren drei. Immerhin hatte es dreiunddreißig Jahre meines Lebens einen deutschen Staat namens DDR gegeben, der sich mit der Bundesrepublik Deutschland wiedervereint hat. Und es gibt da noch Teile des ehemaligen Deutschen Reichs, die heute zu Polen oder Weißrussland gehören.
Das ist nunmal Geschichte.
Die Geschichte berichtet von einer Wiedervereinigung und bezeichnet damit einen Vorgang, der nur als kompromissloses Schlucken der DDR bezeichnet werden kann, denn es handelte sich nicht um die gleichberechtigte Zusammenführung zweier deutscher Staaten, sondern um die wirtschaftliche und politische Übernahme eines Landes, dessen Bürger und Führung praktischerweise deutsch sprachen - was den Vorgang vereinfachte.
Ach ja, hier muss ich gleich noch einige Zusatzinformationen einfügen: DDR meint in diesem Text DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBKLIK und nicht Double Data Rate, wie es die Computerleute kennen.
Zugegeben, es hatte Zeiten gegeben, in denen uns die Brüder und Schwestern im Osten gar nicht so nah gewesen waren, wie wir immer dachten, aber dass man nun von den fünf teuren Bundesländern sprach...
Nun, meine Schwiegermutter war in Ostpreußen aufgewachsen, zumindest die ersten neun Jahre ihres Lebens, und sie wollte das Haus wiedersehen, das Dorf ihrer Eltern, Großeltern und anderer Verwandter.
Gut, meine Schwiegermutter hatte diesen Wunsch und weil sie sich besser fühlte, wenn wir sie begleiteten, erklärten wir uns bereit, diese Reise mit ihr anzutreten.
Reise.
Wegen des erforderlichen Gepäcks und des besseren Fahrgefühls, fuhren wir in unserm dreizehneinhalb Jahre alten Bi-Em-Dabbel-Ju über Berlin, Frankfurt, Posen und einige andere Orte bis nach Ostpreußen.
Wir sollten uns mal ansehen, wo letztendlich ihre Wurzeln waren, meinte meine Schwiegermutter und es interessierte uns, vielleicht auch darum besonders, weil wir nun, im sogenannten Erwachsenenalter, wussten, in welchem Maße die ersten Jahre der Kindheit einen Menschen prägen.
Nun ist Polen wesentlich größer, als wir dachten, was dazu führte, dass wir, nachdem wir die Grenze überquert hatten, gut einen ganzen Tag durch dieses Land fahren mussten, genauer gesagt sechshundert Kilometer.
Nun wird man sich fragen, was haben die die ganze Zeit gemacht, Blümchen gepflückt, Pilze gesucht, zu den Pilzen kommen wir aber erst später, oder haben sie sich von Rastplatz zu Rastplatz geschleppt, schließlich fährt man sechshundert Kilometer in etwa sechs, maximal acht Stunden; dachten wir auch - oder hatten wir auch gedacht.
Aufgrund fehlender Autobahnen, der Große deutsche Autobahnbauer, auf den wir später noch zu sprechen kommen, hatte ja bekanntlich, entgegen eigenen Plänen, keine tausend Jahre Zeit gehabt, brauchten wir etwa zwei Stunden für einhundert Kilometer, was für autobahnverwöhnte Mitteleuropäer ein beängstigend geringer Schnitt ist.
Spurrillen gab es, wie man sie andernorts nicht kennt, so hoch wie ein Bordstein und scharfkantig dazu, dass es die deutschen Straßenbauer vor Neid erblassen ließe, wenn sie sie sähen. Ich erinnerte mich an die Angaben die Slartibartfass in Douglas Adams Hitchikersguide zu den Norwegischen Fjorden gemacht hatte und hegte die heimliche Idee, er sei auch für die Gestaltung der polnischen Spurrillen verantwortlich gewesen, oder ich hätte ihn zumindest dafür verantwortlich machen können. Da diese Spurrillen durch Lastkraftwagen hervorgerufen worden waren, die man hier in reichhaltiger Anzahl auf allen Strecken antreffen konnte, mussten wir die fahrerische Routine der Eingeborenen bewundern, denen es, für uns gänzlich unverständlich, offensichtlich immer wieder gelang, mit kleinen und größeren Personenkraftwagen trotz dieser ausgeprägten Spurrillen zu navigieren. Ich dachte bei diesen Worten übrigens nicht an den Flug des Navigators.
Ja ihre Wahrnehmung, die Der Polnischen Autofahrer, scheint über diesen besonderen Sinn zu verfügen, den siebten, der immer wieder in unseren Fernsehsendungen angepriesen wird, denn man kann ihre Wahrnehmung nur als präkognitiv bezeichnen, aufgrund ihrer Sicherheit an unübersichtlichen Stellen zu überholen und sich überhaupt mit selbstloser Geschwindigkeit fortzubewegen, als wäre es ihnen gleichgültig, ob sie ihr Ziel erreichen würden oder nicht. Sie scheinen ihre präkognitiven Fähigkeiten so stark ausgeprägt zu haben, dass sie genau wissen, am abend lebend ihr Ziel erreicht haben zu werden und daher mit keinem Gegenverkehr beim überholen an unübersichtlichen Stellen rechnen zu müssen.
Genauer betrachtet muss es sich da um den achten Sinn handeln, denn die Hinweise unserer beliebten Fernsehsendung beachtet da niemand, man ist einfach weiter. Ein polnischer Verkehrsteilnehmer ist sich in jeder fahrerischen Situation absolut sicher, am Abend wieder zuhause mit seiner Familie...
Wenn da nicht die vielen Kreuze am Straßenrand wären, stumme Zeugen - zumindest werden sie in unseren Breiten als Stumme Zeugen des gewaltsamen Endes eines Verkehrsteilnehmers gesehen. Vielleicht ist das ja in Polen anders, immerhin handelt es sich um ein so katholisches Land, dass sogar der Papst Pole geworden ist.
Die polnischen Verkehrsregeln haben wohl nur den Sinn, dem ausländischen Besucher eine Richtlinie an die Hand zu geben, die er befolgen sollte, es sei denn er habe polnisches Erbgut und verfüge auch über die Fähigkeit der Präkognition.
Schnell konnten wir feststellen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes sich in mehrere Kategorien einteilen ließen.
Neben den schon erwähnten Fahrzeuglenkern mit ihren außersinnlichen Wahrnehmungen, die von uns ignoranterweise zunächst als Kamikaze-Fahrer bezeichnet worden waren, gab es noch die eine besondere Gruppe von Polinnen, die Pilzsucherinnen, die uns schon direkt hinter der Grenze auffielen.
Pilszsucherinnen, die am Straßenrand standen und den Lenkern der vorbeifahrenden Fahrzeuge freundlich zuwinkten. Es gab da zwei Arten von Pilzsucherinnen. Die ersten, die wir hinter der Grenze sahen, hatten keine Körbe mit Pilzen bereitstehen, sondern fuhren bereitwillig in den vorbeifahrenden Autos mit, um den Insassen die besten Pilzsammelplätze im Wald zu zeigen. Sie waren trotz der fehlenden Sommerhitze sehr sommerlich gekleidet, trugen kurze Röcke oder Kleider und winkten dem Vorbeifahrenden heftigst zu, während sie andererseits zigarettenrauchenderweise einen gelangweilten Wartezustand signalisierten. Eine hob ihren kurzen Rock um damit anzuzeigen, dass sie völlig harmlos war, denn möglicherweise hatte sich bei den Vorbeifahrenden ein unbegründetes Misstrauen gerührt und sie vermuteten in diesen Pilzsucherinnen bewaffnete Amazonen, die ohne die richtigen Pilzsammelstellen gezeigt zu haben, den interessierten Kunden wieder auf die Straße; schicken würden. Nun, sie war unbewaffnet und...
Die anderen Pilzsucherinnen waren etwas älter und erfahrener, jedenfalls hatten sie schon einen Korb oder Eimer mit Pilzen dabei und man musste mit ihnen nicht weiter in den tiefen Wald fahren, sondern konnte die Pilze so am Rand der Straße erwerben.
Gut, die erste Nacht verbrachten wir in einem Motel in Ortelsburg, oder vielleicht auch besser gesagt, in dem Ort xxxx, der von den Deutschen, als sie noch da wohnten, bis 1945 Ortelsburg genannt worden war. Über das Motel gibt es nicht viel zu sagen, nur trafen wir am Abend einen Mann an der Bar, der als einziger bereitwillig englisch mit uns redete, Thomas hieß und nach einem Philosophiestudium nun in einer Polizeiakademie zur Ausbildung war.
Am nächsten Tag fuhren wir weiter und kamen in einen Ort, der Targovo hieß und bis 1945 Terwisch geheißen hatte. Laut Mücke, so nannten wir meine Schwiegermutter schon seit Jahren, hatte sich dieses Dorf kaum verändert, zumindest nicht verbessert. Das Haus in dem sie aufgewachsen war, verfügte nicht mehr über den reichen Baumbestand, weil man wohl die Bäume verheizt hatte, ebenso wie die Zäune, sogenannte Stachetenzäune und die hölzernen Stallungen. Die Fenster waren seit 1942 nicht mehr gestrichen worden, tatsächlich stammte der letzte Anstrich von Mückes Vater. Aber man hatte die alten Kachelöfen ausgebaut und tatsächlich Heizkörper eingebaut. Eine weitere Veränderung betraf den Flur. Hier war ein Teil durch einen Vorhang abgeteilt worden, hinter dem wir eine Badewanne stehen sahen. Die Badewanne war nicht zu übersehen, denn der Zulauf, ein dreiviertelzoll Eisenrohr, führte in etwa fünf Zentimetern Höhe quer über den Boden des Flures und war so eine garantierte Stolperfalle für jeden potentiellen Einbrecher.
Die polnischen Menschen, die jetzt das Haus bewohnten, machten uns Kaffee und empfingen uns sehr gastfreundlich, als wäre es selbstverständlich, dass völlig unangemeldet irgendwelche Leute aus dem Ausland kamen und sich im Haus und auf dem Grundstück umzusehen.
Nun, wir fuhren weiter nach Mikolajke, was früher in deutscher Sprache Nikolaiken hieß, und fanden Dank Abigails Reiseführer, Abigail ist meine Schwägerin und Mückes Tochter, schnell eine Pension, von der wir nun wissen, dass sie wahrscheinlich in ganz Polen ihres Gleichen sucht.
In der Pension Wodnik fanden wir zwei Doppelzimmer, eines für Mücke und Abigail und eines für Nilsen und mich. Beide Zimmer verfügten über Seeblick auf den Taltysee und einen Balkon. Mit Frühstück waren sie tatsächlich erschwinglich.








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