23 Jahre Wartezeit



Dreiundzwanzig Jahre Wartezeit ist fast ein Viertel Jahrhundert, eine Zahl, die wenn man William S. Burroughs gelesen hat, für manch einen schon eine gar mystische Bedeutung hat.
Doch was ist eine dreiundzwanzigjährige Wartezeit schon, wenn man der Meinung ist, es würde sich lohnen, wenn einen die eigene Erwartenshaltung so stark beansprucht, dass einen dieser Gedanke nicht mehr loslässt, dass man der festen Überzeugung ist, es müsse sein.
Im Jahr 1972 hatte ich zum erstem Mal an diesem Platz gestanden.
Etwa einhundert Meter trennten mich von diesem Bauwerk, doch es war unerreichbarer als die Chinesische Mauer, die Pyramiden in Gise und das Empire State Building in New York zusammen.
Einhundert Meter, eine Entfernung, die unüberwindbarer war, als die Strecke zum Mond dieses Planeten, immerhin durchschnittlich 384000 km.
Jahr um Jahr kam ich wieder an diesen Ort, doch nichts hatte sich an der Unerreichbarkeit des Gebäudes geändert, keinen Meter kam ich näher heran.
Der Wunsch, einmal im Leben durch dieses Tor zu schreiten, einmal im Leben dieses Gebäude zu erreichen, ohne dafür das Leben auf's Spiel setzen zu müssen, wurde im Laufe der Jahre immer stärker, immer übermächtiger - doch wie sollte es jemals möglich werden?
Die Imagination des Ortes war kaum zu erklären.
Was würde anders sein, nachdem man diesen Ort erreicht hatte?
Was würde es verändern, die Welt oder mich?
Einige meiner Freunde kamen dann zu mir, nach dem Großen Ereignis für Deutschland.
"Du, wir haben da einen Gedanken. Du weißt doch, dass wir im November ein Wochenende von unserem Skattisch aus nach Berlin fahren wollen..."
So begann Willi seine Ansprache und wurde dabei durch Dieter unterbrochen.
"Ja, und da haben wir gedacht..."
Und während Andreas und Manfred grinsten, ergänzte Karl-Heinz.
"Dass Du Dich da ja ein bischen auskennst..."
"Du sollst einfach nur mitfahren!"
Brachte Manfred den Gedankengang zu Ende.
"Warum nicht? Ich komme mit!"
Diese Fahrt nach Berlin führte uns - erstmalig nach der Wende - in eine Stadt, die ihren Charakter zusehends täglich veränderte.
Und, ich saß hinter dem Lenkrad unseres alten VW-Busses, auch schon am ersten Tag zu dem Ort, der in mir zu einer mystischen Erwartung geführt hatte.
Wir parkten in der Nähe.
Auf der anderen Seite des Gebäudes verkauften Bürger der ehemaligen Sowjetunion Orden, Mützen und andere Gegenstände.
Ich war froh, mir schon an diesem ersten Abend ein Bernsteinei für meine Gattin kaufen zu können und - wegen der eisigen Kälte des Novembers 1995 - eine dieser warmen Mützen der ehemaligen Nationalen Volksarmee, die sowohl die Ohren, als auch den Rest des Kopfes warm hielten.
So gerüstet, die Freunde an meiner Seite, die Mütze auf meinem Kopf und das Bernsteinei für Edeltraut in meiner Jackentasche, tat ich dann erstmals das, was ich schon seit dreiundzwanzig Jahren machen wollte.
Ich tat es mehrmals hintereinander und meine Freunde konnten es gar nicht nachvollziehen, dass ich daraus einen Akt zu machen schien -
ich ging durch das Brandenburger Tor.


zurück zu Autorenagentur
made by: muellers-bueros