Tabula rasa*

Ich hielt die Arme ausgebreitet und atmete ein, es war Höhenluft. Ich stand auf der Brüstung und sah nach unten. Die Autos, eilig, die Menschen, klein, die Farbe, grau. Eigentlich wollte ich nicht auf dieser Straße sterben. Ich ging.

Ich hielt die Arme wieder ausgebreitet und vermied es, allzu tief einzuatmen. Es stank nach Fisch, und ein Schiff hatte während der Fahrt Müll entleert. Die gelb-grüne Spur verlor sich unter meinen Füßen, unter der Brücke. Das Wasser war eigentlich angenehm, die Bewegung verführerisch, die Sehnsucht groß. Wollte ich hier sterben? Eigentlich war die Formulierung nicht sehr elegant. Wollen – tat ich, hier – war doch genau so gut wie anderswo. Vielleicht besser als von einem hohen Gebäude zu springen. Das Wasser, ja, geeignet.

Ich sprang. Ich tauchte ein. Ich versteifte. Aber ich sank nicht. Rein nach den physikalischen Prinzipien, hätte ich sinken sollen, da ich mich nicht bewegte. Ich stieg auch nicht im Wasser. Um mich herum sah ich die gelb-grüne Spur. Müll, Schmutz, Wässrigkeit, Tod, komme!

Ich verweilte recht lange so im Wasser. Ich brauchte nicht zu atmen – es ist eigentlich sehr befreiend, nicht mehr einzuatmen und auszuatmen und einzuatmen und… - aber es musste doch etwas passieren. Inzwischen war das Wasser recht sauber geworden, der Schmutz war auf dem Grund gesunken. Ich nicht.

Ich war nicht. Es waren die Schiffe, die über mich führen. Es waren irgendwelche Vögel – ich sah ja nur die Füße im Wasser, die Schnäbel. Es waren sogar die Ströme, die sich jagten und mich leicht bewegten. Ich war es nicht. Nicht atmend, nicht sinkend und vor allem nicht sinkend.

Nach der Zeit, die keine Zeit war, öffnete ich den Mund, irgendwie sollte ich feststellen, ob ich doch tot sei, und das ja die Strafe für meinen Selbstmord sei – Verweilen in der Hölle. Es kam eine Blase raus, wie in den Comics, doch da stand nicht das, was ich ausgesprochen hatte, sondern die Antwort darauf – Was? Ich öffnete erneut meinen Mund und ich sah wieder die Blase, die Antwort – Nein. Ein letzter Versuch und wieder – Du wolltest sterben?

Hatte ich mich so dumm angestellt, dass mich das Universum nicht verstand? Ich dachte über mich nach. Und da geschah es – das Wasser verschwand, die Schiffe, die Vögel, die Ströme. Es blieb nichts. Obwohl, ein Etwas-Nichts war doch da, ich saß darauf. Ein Nebel – ? der keinen Anfang und kein Ende hatte, ein Nebel-Nichts, ein Boden-Nichts.

Ich brauchte auch hier nicht zu atmen, nicht zu trinken, nichts zu essen, nicht bewegt zu werden oder mich zu bewegen. Ich brauchte nichts. Aber ich erschrak – wir alle sind auf so wenig nicht vorbereitet, alles im Leben verlangt nach mehr, ein Atemzug nach dem anderen, ein Erfolgserlebnis nach dem anderen… Und es war alles, was mir blieb – die Angst. Sie saß mir gegenüber auf dem weißen, strahlenden Nichts-Boden, und ich sah es natürlich nicht. Es war nur da und fletschte andauernd die Zähne nach mir.

Nach einer Ewigkeit fand ich den Dreh raus und ich sah wieder. Nicht durch die Wände, nicht durchs Fenster, es war ja nichts Vergleichbares da. Ein Loch ließ sich auch nicht machen, da ich mich seit dem ersten Eintreffen an diesem Ort nicht einen Atemzug bewegt hatte. Aber, wie in meinem Verstand aufgewacht, sah ich zuerst ein Bilderkino. Ich konnte es nicht deuten, es lief nur hintereinander unerkannt weiter.

Weitere Ewigkeiten später fing ich an, Gesichter und Orte zu verstehen, sie sogar wieder zu erkennen – die Angst war bei mir. Ich verstand es teilweise auch nicht. Ich sah Engel und Engel. Manche strahlend weich beflügelt, Milch und Gold war das erste, woran ich dabei dachte. Und es waren manche, die mit Schwertern und bösem Blick vom Himmel stürzten – sie rochen nach Blut und oxidiertem Silber. Welchen Teil der Weltgenesis sah ich nun, den Anfang, oder die Welt vor den 7 Tagen? Und wo war Gott?

Ich sah die Riesen, aus den Tränen Orpa entstehen, die moabitische Schwiegertochter – sie weinte, weil sie von ihrer Schwester getrennt wurde – fünf Riesen, die sich auf die Welt stürzten. Der erste starb durch die Schleuder von David. Der zweite wurde geblendet und fiel vom Felsen ins Meer. Der dritte wurde in einer Felsspalte gefangen und drei Flüsse wurden über ihn vergossen – ertrunken. Der Vierte verliebte sich in einen Engel und verdampfte beim ersten Kuss. Der Fünfte, ja der versteckte sich bei mir.

Ich, der Riese und die Angst. Aber er schien mich nicht zu bemerken, nicht zu sehen, nicht zu begreifen. Er kauerte sich hin und hörte auf, sich zu bewegen. Ich sah die Angst ihm ins Ohr flüstern, nicht einmal in seinen Augen konnte ich lesen, was in ihm vorging.

Ich sah die Engel wieder, die blutigen – eigentlich war mir noch nie bewusst, dass die Bestrafung so schnell hinter der Tat folgt. Und dass sie unerbittlich und blutig ist. Die Angst, ja sie war bei mir. Die Engel, die gefallenen, sie liebten. Sie liebten schöne Frauen, weiche, zarte, solche die gehorchen. Sie kommen in ihre Betten bei Nacht, lassen sich in Wonne tauchen und verschwinden wieder. Manchmal töten sie ihre Geliebten. Warum?

Ewigkeiten. Und da sah ich, wie ein Engel verletzt wurde. Habe nie gewusst, dass sie auch sterben können. Nicht eine Frau und nicht Gott, sondern, er selbst, er entzog sich der Liebe. Die Federn fielen ihm aus, wie Blätter im Herbst. Die Flügel, vertrocknet, fielen auch ab, wie Staub. Und er wurde klein und schmächtig, kniehoch, sein Schwert scheuerte die Hüfte. Er rutschte mehr tot als lebendig zu uns rein.

Ich, der Riese, die Angst und ein gefallener Engel.

Es wurde eng im Nichts.

 

Copyright Andrea C. Windhab

Mail: Andrea C. Windhab

 



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